Klang der Schuld, Fäden der Erinnerung
Klang der Schuld, Fäden der Erinnerung
Die Bäume des Schattendickichts standen so dicht aneinander, dass selbst Erinnerung nur als feiner Hauch zwischen ihren Rinden hindurchkam. Schattengras kroch wie lauernde Schrift über die Wurzeln, seine Spitzen neigten sich dem Puls jedes Lebewesens entgegen. Über allem lag das blasse Kühlen der Lichtfängerbäume, die in ihren Stämmen Nacht sammelten und sie als kaltes, blaues Leuchten zurückgaben. Kein Wind, nur das Nebelgeflüster – ein Atem, der Stimmen trug, die keine Münder mehr besaßen, und silbrige Sporen, die wie feiner Tau an den Lidern klebten; aus den Rinden sickerte Kälte, die Geruch von altem Harz in die Zunge schrieb.
Yrravin bewegte sich darin wie eine Silbe, die der Wald verstand. Seine Haut war von Schattenseide umhüllt, sein Schritt kaum Real, eher eine Entscheidung der Dunkelheit. Er war ein Nachtweber; sein Blick las Muster, die die meisten für Finsternis hielten. Sein Schritt hinterließ nur Nebelbruch, feine Risse im Dunst, und in seinen Augen hing die Nachtschwinge als zersplitterter Funke. An seiner Seite ging Serya Tzul, deren Hände in feinen, schimmernden Fäden mündeten – Fäden, die Myzel, Nebel und Gedächtnis verbanden. Wenn sie atmete, leuchtete in der Luft ein Sporenkreis auf wie ein stiller Sternenkranz. Doch das sind nur Umrisse im Nebel; was an ihnen sprach, zog die wahren Linien.
Man nannte Yrravin, den Flüsterjäger der dornigen Pfade, dessen Leib wie aus Schattenhaut genäht schien; entlang seiner Unterarme lag Dornschrift, feine Narbenzeichen, die unter Nachtschwinges Nähe leise glommen. Sein Mantel war Dornengewebe, das Moryn bricht, statt es zu tragen; um die Hüfte ruhten Kapseln mit Nachtsplittern, zwischen den Fingern flirrten geronnene Schatten; in ihnen spiegelten sich kurz die Dornensterne der Kronen. Neben ihm ging Serya Tzul, Myzelmagierin von Tzura, Seelensporen‑Sammlerin der Fadensänger: Sporenlicht lag auf ihrer Haut, darunter liefen Myzeladern wie verschlungene Wege. In ihrem Haar saßen Sporenkränze und Rindenamulette, an der Hüfte eine Fadenspindel aus Knochenholz, und aus ihren Handflächen stiegen Fäden, die Nebel, Erinnerung und Wurzel aneinander banden.
„Nhal’ys vel Daryss, Moryn shal’thir.“ — Unter der Nachtschwinge lernt das Licht zu flüstern.
Serya flüsterte es, nicht als Trost, sondern als Siegel. Hal’Syrr lag voraus, eine Siedlung in den Kronen der Lichtfängerbäume, geflochten aus lebenden Brücken und gesungenen Pfählen, die aus dem Holz selbst wuchsen. Man erreichte sie nur, wenn die Bäume entschieden, dass man erwartetes Gewicht trug.
„Er ist schon im Dickicht“, sagte Yrravin. „Sein Ruf macht die Pflanzen zu Ohren.“
Sie meinten Zhyrr’Sporath. Einst ein Shaedan‑Gesandter, der die Nebelstimmen vernahm, ohne zu zerfallen, nun ein Sporenliturg der Pilzbrand‑Lehre. Er entzündete Sporen, bis sie Denken bekamen, und kleidete Halluzination in Dogma. Wer seinen Sermon atmete, verlor den eigenen Namen, gewann aber eine Stimme, die nicht verstummte, solange der Wald sich erinnerte.
Unter ihnen regte sich Nythirgeflecht – ein teppichhaftes Fressen, das alles berührte, was zögerte. Serya ließ Fäden durch ihre Fingerspitzen laufen, gab ihnen Richtung, legte ihnen Halt auf. Das Geflecht hielt inne wie ein grollender Bauch.
„Er sammelt Schattenkriecher“, sagte Yrravin. „Er verspricht ihnen Körper.“
„Körper sind nur geliehene Häute der Nacht“, entgegnete Serya. „Schick uns einen Traum, Yrr.“
Yrravin öffnete die Hand und eine Traumfuge schnitt das Schweigen auf. Der Ruf des Waldes antwortete: Blätter begannen zu murmeln, als wären sie Zungen, und das Schattengras neigte seine Spitzen zur selben Richtung – eine Spur, gezeichnet von dem, was die Region als Schuld kannte. Die Richtung zog sie wie ein leiser Zwang. Der Traumriss hielt, und der Wald sprach in Blattlaut weiter; zwischen Farnschatten lagen Schorflicht-Nester wie blinde Augen, die kurz aufglommen, wenn sie nahe traten. Ein Veth-Surr schob sich in die Stille—erst fern wie Erinnerung, dann nah wie Atem. Über dem Boden hing Nebelgalle, dünn und kühl, und hinterließ auf der Zunge den Nachgeschmack von Mondrest. Das Schattengras wechselte in einen engeren Winkel, Strich an Strich, bis der Pfad nicht mehr Weg, sondern Zeichen war. Dort, wo die Luft in feinen Rhysslinien vibrierte, öffnete sich der Wald—eine Senke, in der die Geräusche langsamer wurden, als wollte die Zeit erst prüfen, wer eintreten durfte.
Sie fanden Zhyrr’Sporath dort, wo die Nachtblumen einen Kreis bildeten. Die Blüten standen geschlossen, doch ihr Duft war bereits ein Messer. Um ihn waren Mondschleier Surrer wie ein schwarzer Kranz, jedes Nest ein pulsierender Gedanke, der Stich ein Satz ohne Widerspruch; ihre Flügel schnitten den Nebel in dünne Lagen.
Zhyrr’Sporath’s Gesicht war wie eine Maske, von Sporen gezeichnet, die in seinen Wangen Fäden zogen; unter der Haut schwärmten Sporenfächer wie runische Brut, die beim Sprechen aufblühte. Seine Augen waren wie zwei in den Nebel gestochene Löcher: Man sah nicht hinein; man fiel als Gedanke hindurch.
„Yrravin,“ sagte er, und der Name klang, als gehöre er dem Wald, nicht dem Nachtweber selbst. „Serya Tzul. Ihr kommt spät. Die Nachtschwinge hat bereits Atem geholt.“
Der Name ließ die Lichtfängerbäume kurz dunkler werden. Nachtschwinge, der Mond dieses Kontinents; wenn sein kaltes Leuchten tiefer fällt, verstärkt er, was bereits ist: Leben, das sich mit Schatten verbindet, Licht, das flackert, Realität, die ihren Tritt verliert. Steht er voll und nahe, kann ein Dorf wie Hal’Syrr zu einem Chor werden, der nur noch in einer Tonart spricht.
Die Myzelmagierin von Tzura hob die Hände – Fäden lösten sich aus dem Nichts. „Lös uns aus deinem Traum, Zhyrr. Geh in Stille, bevor dich die Stille frisst.“
„Stille ist mein Tempel,“ sagte Zhyrr’Sporath. „Doch euer Dorf ist mein Altar.“
Er spaltete den Duft der Nachtblumen. Die Sporen stiegen wie Gebete auf und entfalteten Gesichter, Verlorene der Pfade, gefallene Wächter, Geliebte, die nie waren und dennoch wehten. Hal’Syrrs Stimmen drängten aus den Kronen: „Thalys vel Oranthil… der Weg durch die Ruhe der Monde…“ Gebetsreste, die die Äste gelernt hatten.
Yrravin zog einen Schattenriss durch die Luft; die Magie legte sich wie eine dünne Nachthaut über die Senke, der Wald hielt den Atem an. Trugbilder stürzten nach innen und zerfielen zu Nachtpulver.. Doch Zhyrr’Sporaths Sporenliturgie war nicht bloß Bild. Jeder Sporenatem brannte in den Lungen wie eine Erkenntnis, die man nicht gewählt hatte. Serya sprang, schlug mit Fäden durch die Luft. Die Fäden fanden die Myzeladern im Boden, griffen nach ihnen und lenkten ihren Lauf. Unter Zhyrr’Sporaths Füßen wölbten sich Wurzeln, als bekäme das Dickicht Knochen.
„Du zerrst am Gedächtnis des Waldes,“ sagte Yrravin.
„Ich gebe ihm Stimme,“ sagte Zhyrr’Sporath – und riss sein eigenes Blut auf. Es war kein Rot. Es leuchtete violett, vibrierend, hypnotisches Violettblut, und wo es fiel, verwandelte sich das Schattengras in gefräßige Lautschrift. Worte bissen nach deren Knöcheln. Serya stolperte und fiel in ein Bild: Sie sah Hal’Syrr verbrannt – nicht von Feuer, sondern von Liedern, die Mondschleier Surrer trugen. Sie sah Hal’Syrr von fauliger Sporenfäule durchsetzt—Blattmulden im Schimmelhauch, Spaltmäuler, die nass atmete. Zhyrr’Sporath griff nach Serya Yrravin zog sie zurück. Sein Griff war kalt; er roch nach Daryss, der Hülle der Nacht. „Bleib im Faden, Serya.“
Sie nickte, spürte, wie Hal’Syrr — das Dorf der hohen Äste — in ihren Adern mitschlug. Falorin shal’ra thalys – unsichtbare Freundschaft weist den Pfad. Sie fuhr herum, riss die Fäden an und webte eine Gestalt: Einen Schattenblüten‑Golem, gefüllt mit Nebel, gewoben aus Pilzhaut. Er stürzte gegen Zhyrr’Sporath; Hornissen zerplatzten an ihm, ihre Stiche fanden nichts Wirkliches.
Zhyrr’Sporath lachte, kein Laut, eher das Fehlen von Alternativen. Er spreizte die Finger, jede Kuppe eine Sporenpforte. Hal’Syrr sollte singe,nicht als Chor der Lebenden, sondern als gleichgerichtete Wunde. Zhyrr’Sporath verderbte den Ort mit seinem Myzell, presste Stimmen in eine einzige Befehlstonlage, bis Erinnerung zu Brei wurde und der Mondrest nur noch ihm zufloss. Er wollte die Kaeryth brechen, Schuld bündeln und den Atem der Region in seinen Sporenkanon zwingen, damit jede Wurzel, jeder Blattlaut, jedes Schattengras nur seinen Namen trug.
Die Bäume antworteten ihm – doch nicht als Zustimmung. Die Lichtfängerbäume entließen gespeichertes Leuchten, ein kaltes Phosphor, das Schatten nicht vertrieb, sondern schärfte. Der Flüsterjäger der dornigen Pfade verneigte sich unmerklich. „Sie sind wach,“ sagte er Serya zu. „Za’kora sieht zu.“
Za’kora, die Nachtflüsterin: Essenzwächterin des Dschungels. Wenn sie zuhörte, war jedes Flüstern ein Urteil.
Der Kampf zerriss nicht die Luft; er zerriss Möglichkeiten. Zhyrr’Sporath streute Traumgift, ein kühler Glanz, der in der Nase wie Phosphor schmeckte, und aus den Nähten der Welt tropften Alternativen: Yrravin, vom Schattenpfad verschluckt, mehr Entscheidung als Gestalt; Serya, die ihre Fäden band, bis sie nur noch Stricke kannte. Die Bilder schlugen zu und hinterließen Risse, aus denen Stimmen sickerten.
Serya griff in ihren Mund, biss sich in die Zunge, bis der Geschmack sie verankerte. Ihre Fäden rissen nicht – sie verdunkelten, wurden schwer, als legte die Nacht ihr Gewicht hinein. Sie wand Schattenfäden um Zhyrr’Sporaths Handgelenke; an der nächsten Eiche trieb Rinde zu Dornschrift aus, die ihren Fäden folgte.
Für einen Atemzug kippte der Wald: Das Veth-Surr verstummte, Nachtblumen schlossen die Münder, und die Sporen setzten sich zu stillen Zeichen in die Luft.
„Du willst fesseln“, sagte Zhyrr’Sporath mild. „Doch ich lehre Verschmelzung.“
Unter ihnen schob sich das Nythirgeflecht vor. Es roch nach Hunger, der am Denken zerrt. Yrravin streute Rhysscherben – kalte Dämmersplitter, die sich wie Reif in die Fasern legten und das Kriechen band. „Nur ein Moment“, zischte er. „Mehr Herzschläge kann ich dem Dämmerfall nicht stehlen.“
Serya spürte Hal’Syrr in ihren Gedanken. Die Novizen der Netze sangen dort oben Rituale, die sie kaum verstanden; die Alten banden Licht in Netze, damit es nicht davonfiel. Selareth velar moranil – Heilig ist der Nebel, der uns umhüllt. Sie legte die Hand auf den Boden. „Hal’Syrr, gib uns eine Brücke.“
Die Wurzeln antworteten. Eine lebende Treppe wuchs, aus Saft und Befehl, und hob die drei in die Luft wie den Anfang eines Urteils. Die Treppe endete im Zwischenraum auf einer Kronenwabe aus Rindenfäden, Wurzelrippen und Harzadern. Die Kronenwabe bestand aus Harzglas, gehärtetem Saftlicht, in das Rindenfäden und Wurzelrippen eingesponnen waren; Kaltschein lagerte darin wie geronnener Mondrest. Darunter arbeitete ein Kaeryth-Gitter: feine Risslinien, die jeden Schritt sanft in die Mitte zurückdrängten. Zwischen den Zellstegen glimmten Rhysszeichen, die den Atem bündelten; wer die Wabe betrat, verlor Richtung, nicht Willen. Am Saum floss Daryss wie eine leise Haut—ein stiller Bann, der jede Flucht in Schleier zerschnitt. Zhyrr’Sporath spürte es zuerst an den Knöcheln: Die Wabe nahm Maß. Er riss sich los, aber die Dornen tranken bereits sein Blut. Er lächelte. „Sporen genügen,“ sagte er. „Sie finden euch im Atem.“
Dann trat die Nachtschwinge hinter den Nebeln hervor, alles flackerte, die Lichtfängerbäume veränderten die Richtung ihres Kaltscheins, Schatten verdoppelten sich, Stimmen wurden zu Schlieren; ihr Schein schob die Profile der Dinge übereinander wie versetzte Glyphen. Yrravin verlor für einen Herzschlag jede Kontur. Serya sah, wie ihr Golem platzte und als Nebel zurück in die Kronen stieg.
Hal’Syrr spannte sich über ihnen wie gezogener Klang. Auf der Kronenwabe, die der Wald selbst geformt hatte, standen sie ohne Richtung—nur gehalten. Kaltschein floss quer durch die Blätter, als suche er Halt. In der Falte zwischen zwei Atemzügen sah Serya etwas: Za’kora, weit wie der Nachtgeflüster-Dschungel selbst, doch ohne Form. Ein aufblitzender Rand aus Rankentext und Sporenlaut. Nicht als Hilfe. Als Spiegel.
„Kaelyss vel Koryneth.“ — Erkenntnis liegt in der verborgenen Wahrheit.
Serya begriff. Zhyrr’Sporaths Sporenliturgie griff nur, weil der Ort von ungesungenen Stimmen schwer war. Hal’Syrr hielt sie leise; Zhyrr’Sporath machte sie laut. Die Antwort war kein Siegel, kein Tod—Umstimmen.
„Yrr“, sagte sie, ihre Stimme trug plötzlich Gewicht. „Wir singen anders.“
Yrravin nickte und ließ die Dämmersplitter sinken, stumme Scherben geronnenen Schattens. Dann öffnete er den inneren Dämmerfallraum und legte frei, was die Alten Nyxknoten nennen. Ein Essenzgeflecht, ein Zusammenzug aus Rhysslinien, Kaeryth-Fasern und eingedicktem Mondrest, der wie lichtloses Leuchten atmete. Um ihn her herum kippten die Blätter in denselben Winkel, das Veth-Surr senkte sich um einen Ton, und die Luft spannte sich wie vor einem Wort. Der Knoten zeigte drei Ströme: Schuld, die an den Rändern schabte; Erinnerung, die in dünnen Spiralen stieg; und Daryss.
Yrravin ließ Daryss sprechen—nicht laut, sondern als tiefe Dämpfung, die die Falschlaute verschluckte und dem Ort seine eigene Stimme wiedergab. Serya legte ihre Handflächen darüber und zog Fäden aus dem Knoten: Dämmerfall in Myzel, Myzel in Wurzel, Wurzel in Atem. Zusammen webten sie eine Gegenlitanei.
Das Schattendickicht hörte zu. Nachtblumen öffneten sich, aber ihr Duft wurde nicht giftig; er klang, und ihre Kelche bebten wie leise. Die Mondschleier Surrer trugen die Frequenz davon; ihr Stich wurde Takt, kein Tod. Selbst das Nythirgeflecht hielt inne, wie ein alter Feind, der einen gleich alten Namen hört.
Zhyrr’Sporath taumelte. Sein Violettblut flackerte, als hätte es plötzlich eine andere Melodie zu tragen. „Ihr…wandelt die Nachtschwinge?“ Seine Stimme brach an dem Wort, als sei es eine Kante.
„Wir geben ihr einen Körper,“ sagte Serya. „Nicht deine, Zhyrr. Unser aller.“
Sie ließen die Gegenlitanei steigen – durch Rinde, Sporen, Schattengras, durch die Seile von Hal’Syrrs Brücken. Die Bäume selbst sangen jetzt, tief und ohne Zungen. Die Nachtschwinge beruhigte sich nicht; ihr Takt legte sich tiefer über die Kronen, als suche das Licht selbst Halt.
Zhyrr’Sporath schrie. Aber der Schrei blieb in seinem Mund stecken, als das Nythirgeflecht ihn erreichte. Kein Blut, kein Knochenriss; nur die langsame, beharrliche Entscheidung eines uralten Organismus, der etwas Fremdes endlich als Nahrung versteht. Zhyrr’Sporaths Sporenliturgie zerfaserte zu weißen Sporen, die Hal’Syrrs Sporenhüter einsammelten und in Gläser sangen, nicht als Trophäe, sondern als Warnung.
Yrravin stand still. Serya zitterte; nicht vor Sieg, sondern vor Nachhall. „Es ist nicht vorbei,“ sagte sie. „Die Stimmen bleiben. Wir haben sie nur umgelernt.“
„Das ist alles, was je bleibt,“ antwortete Yrravin.
Serya legte die Hand an die Rinde und hauchte eine Öffnungsformel in Velryss: „Hal’Syrr vel Thal’ryn — öffne den Kronpfad.“ Die Lichtfängerbäume antworteten mit kaltem Atem; gespeichertes Leuchten rann wie Wasser aus der Rinde und spannte sich zu einer schweigenden Brücke. Wurzeln lösten sich aus dem Boden, flochten Stufen, und das Schattengras wich zurück, als trüge es den Befehl der Nachtschwinge. Nebel zog sich zu Fäden und markierte den Weg, und ihre Schritte wurden leichter, als hätte der Wald ihr Gewicht anerkannt.
Sie stiegen durch den leuchtenden Baldachin, wo das Flüstern zu Linien wurde und jede Linie eine Richtung kannte. Als Serya die Finger löste, blieb der Pfad noch einen Atem bestehen — dann schloss er sich hinter ihnen wie ein zugewebtes Auge.
Vor ihnen weitete sich der Kronenraum zu einer Traumschwelle; Nebel hing in schwebenden Bändern, die Sporenlicht in stillen Nestern trugen. Die Rinde der nahen Stämme glomm, als hätte der Wald ihre Spur angenommen; zwischen angehobenen Wurzelbögen sank der letzte Fadenweg ab und ließ einen offenen Kreis zurück — den Atemplatz von Hal’Syrr.
Hal’Syrr stand nicht, es atmete: verschlungene Kronen, deren Holz im Kaltschein der Lichtfängerbäume glomm. Brücken aus Wurzeladern spannten sich von Stamm zu Stamm und nahmen jeden Schritt auf, ließen ihn im Holz versickern; Pfähle aus Seelenrinde trugen Sigillenmoos, das bei Nähe weich aufleuchtete. Zwischen den Ästen hingen Nebelnetze und Lichtfallen, in denen Kälte zu dünnem Reif gerann. Aus der Tiefe stiegen Wurzelschnüre, die den Drang des Waldes bündelten. In Nischen lagen Traumkörbe aus Pilzhaut; sie hielten Stimmen, bis der Mond sie wieder losließ.
Aus diesen Netzen lösten sich Gestalten: Sporenhüter und Novizen der Netze, Gesichter vom Nachttau beschlagen; der Tau zog Linien über Wangen und Stirn wie schlafende Runen. In ihren Augen ruhte Sporenlicht; an den Schläfen hing Moosfaser, die beim Atmen feiner wurde. Ihre Hände trugen Rindenzeichen, schmale, eingewachsene Narben, und um die Schultern lagen Strähnen aus Schattenflachs. Eine Älteste trat vor; ihr Mantel war Runenborke, unter der Faserlinien langsam liefen, als wanderte Wald darin. „Wir haben euren Schatten gespürt,“ sagte sie. „Er ist schwer, doch er schützt.“
„Zhyrr’Sporath ist fort,“ sagte Yrravin. „Sein Echo nicht.“
„Echos sind Wegweiser,“ entgegnete die Älteste. „Oder Fallen. Ihr habt uns beide gegeben.“
Serya legte die Gläser mit den Sporen in einen Kreis aus gesungenem Holz. „Versiegelt sie nicht,“ sagte sie. „Lehrt die Sporenhüter, wie sie klingen, wenn sie falsch werden.“
Die Nacht senkte sich tiefer, doch die Kälte der Lichtfängerbäume wurde milder. Hal’Syrrs Brücken spannten sich neu, als hätten sie etwas Schweres losgelassen. In der Ferne murmelte der Wald seinen endlosen Ruf.
Yrravin und Serya saßen auf einer Wurzel, die sich wie ein Atem hob und senkte. Serya strich über ihre Fingerspitzen; winzige Sporen glommen, als würden sie begreifen, dass ihr Prediger Verlust geworden war.
„Zarynth se Erynthar.“ — Die Zeit bewahrt das Schicksal.
„Was hat Za’kora gesehen?“ fragte Yrravin nach einer Weile.
Serya lächelte müde. „Dass wir noch nicht gehört haben, was wir werden. Nur, was wir vermeiden wollten.“
„Dann jagen wir weiter?“
„Wir stimmen den Takt,“ erwiderte sie. „Jagen ist nur eine Art, Nein zu sagen. Heute legte die Nachtschwinge ihren Atem auf unsere Stimmen.“
Unter ihnen zogen Schattenkriecher vorbei, wortlos, doch weniger scharf. Über ihnen atmete Hal’Syrr – und die Nachtschwinge legte ihren Takt wie leisen Mondhauch in die Kronen; ungebändigt, doch in Einklang.
Am Rand des Dickichts, wo Nythirgeflecht wieder zu Boden wurde, blieb ein Rest von Zhyrr’Sporaths Stimme in der Rinde hängen. Kein Drohen, eher ein Satz ohne Ende: „Licht und Dunkelkeit weben dieselbe Wahrheit…“
Serya nickte dem Fragment zu, als sei es ein alter Bekannter. „Moryn daryss vel’kaen“, flüsterte sie. „Dann weben wir besser.“
Und der Nachtgeflüster‑Dschungel – ungezähmt, uralt – antwortete mit einem Klang, der weder Vergebung noch Urteil war. Nur Gegenwart. Nur Atem. Nur ein Wald, der gelernt hatte, die eigenen Stimmen zu tragen.
