Die Stimme der Schattenharfe

Schlagwörter: Obscyria Kontinent Nebeldämmerung

„Nicht jeder Klang ist Musik. Manche Töne flüstern Geheimnisse, die selbst der Nebel nicht zu bewahren vermag.“

In den tiefsten Nebellichtungen von Nebeldämmerung, wo das Licht des Dämmermonds nur in schimmernden Fäden durch das Geäst dringt, liegt eine verlassene Lichtung. Kein Pfad führt dorthin, außer dem Velérin, dem „Nebelgeflüster“, das nur jene hören, die ein uraltes Band zur Schattenmusik in sich tragen.

Hier wurde sie erschaffen. Die Noctiluth. Eine Harfe, nicht aus Holz, sondern aus Schatten und Magie. Ihre Saiten: gezogen aus Mondsilber, gespannt über das Schweigen der Zeit. Und wenn sie spielt… stirbt der Moment. Ihr Klang ist kein Lied. Es ist Erinnerung, zersplittert. Jede Schwingung ein Echo verlorener Seelen, zu leise für das Licht, zu laut für das Vergessen.

Am 17. Tag des Monats Flüsterkristall, während der sechsten Stunde von Veilith, als der Dämmermond in voller Resonanz über Nebeldämmerung stand, wurde ein einsamer Wanderer von der Melodie der Noctiluth gerufen.

Sein Name war Naevor, ein Celysra. Einer der Nachtflüsterer. Die Celysra sind ein geheimnisvolles Volk aus Nebeldämmerung. Ihre Augen sehen nicht wie die der anderen, sie erfassen die Resonanzen der Schatten, das Flüstern der Vergangenheit und die Ströme der Erinnerung. In ihrer Sprache bedeutet Celysra so viel wie „jene, die in der Dunkelheit lauschen“.

Es heißt, dass jeder Celysra einmal im Leben das Velérin vernimmt, das Nebelgeflüster, das nur jenen offenbart wird, deren Seele mit der Musik der Schatten verwoben ist. Naevor war einer der wenigen, die diesen Ruf nicht nur hörten, sondern ihm folgten.

Durch ihre außergewöhnliche Sensibilität für die Resonanzen im Nebel und ihre Gabe, Stimmen zu vernehmen, die anderen verborgen bleiben, gelten die Celysra als Hüter verborgener Wahrheiten. Man sagt, sie könnten mit den Schatten sprechen und selbst die stummen Lieder der Vergangenheit hören. Sie sind Träger einer Gabe, die es ihnen erlaubt, Schatten zu lesen wie andere Bücher.

Die Harfe spielte von selbst. Ihre Klänge hallten durch die Nebel und riefen Erinnerungen wach, die längst begraben schienen: verlorene Namen, vergessene Lieder  und einen Ruf nach Hilfe, der aus der Vergangenheit kam. Nicht aus seiner. Sondern aus einer Zukunft, die sich in der Dunkelheit formte.

Naevor erstarrte. Das war keine Melodie, die man kannte, das war keine Erinnerung. Die Schattenbewahrer… ja, er kannte ihre Werke. Musik, die nicht gehört, sondern gespürt wurde, wie das Zittern kurz vor dem Erwachen. Doch das hier? Es war neu. Fremd. Kein Lied aus den Chroniken der Lunariswächter.
Keine Zeile in den Prophezeiungen der Ätherweber. Es war ein Lied, das sich selbst erschuf, mit jedem Flüstern aus der Tiefe.

Der Nebel selbst begann zu flüstern. Kein Laut, sondern ein Echo. Worte, geboren aus Dunst und Erinnerung. In Lunaris, der alten Sprache der Wächter: „Ilthari… Nythalin… Velérin…“ Schattentanz. Nebelpfad. Nebelgeflüster. Die Worte klangen nicht, sie schwebten, formten sich zu einer Melodie, dunkel, voller Melancholie. Die Sprache selbst… wurde Musik.

Als Naevor die Harfe berührte, formte sich ein letzter Ton tief, zitternd, unvollständig. Der „Zerbrochene Akkord“, von dem die Legenden aus Scherbenfall von Draen sprechen, hallte wie ein rufendes Echo durch die Lichtung, ein Klang, der nie hätte erklingen dürfen.

Und in jenem Augenblick, als der letzte Nachhall in der Stille zerschnitt, bebte der Nebel. Er spannte sich, als würde er sich erinnern… und dann zerbarst er. Ein Riss, feiner als Schimmererz, dunkler als das Licht von Xhal’Vethar, öffnete sich in der Welt, kein Pfad im herkömmlichen Sinn, sondern ein Spalt in der Realität. Ein Weg, der nicht betreten, sondern aus den Schatten der Erinnerung entstand. Der weder existierte, noch  war, sondern jenseits des Yvorith’Kai, im Sternengewebe selbst vergessen lag.

Was dahinter liegt, wissen nur die Schatten. Doch seit jener Nacht hört man das leise Spiel der Noctiluth wieder, in Träumen, im Wind, im Atem der Dunkelheit.