Die Nachtglas-Laterne: Das Licht der Schatten

Schlagwörter: Obscyria Kontinent Nebeldämmerung

Die Nacht der letzten Nebelnacht liegt nun hundert Zyklen zurück. Es war die Zeit, in der der Dämmermond und der Nebelstern ihre Konstellation vollendeten und den Kontinent Nebeldämmerung in ein schimmerndes, aber unheimliches Licht tauchten. Diese magische Nacht war ein seltenes und mächtiges Ereignis, gefürchtet und verehrt zugleich. In ihr verbanden sich die Kräfte der Dunkelheit und des Lichts, und die Grenze zwischen den Welten verschwand. Der Flüsterwald von Erythen, eine ohnehin geheimnisvolle Region, wurde zum Zentrum dieser Magie.

Duskveil, der uralte Schattenwolf, durchstreifte den Flüsterwald wie ein lautloser Schatten. Sein eisblauer Blick suchte nach den ersten Vorzeichen der Nacht, während er über die uralten Pfade schritt. Es hieß, dass er in der Nebelnacht stets die Wächter beobachtete, bereit, sie vor lauernden Gefahren zu warnen.

Die Lunariswächter wussten, dass die Nebelnacht sowohl eine Prüfung als auch eine Chance war. Der Älteste, Erythil, entschied, dass es ihre Pflicht war, das Herz der Nebelnacht zu betreten, den Ort, an dem Licht und Schatten eins wurden. Ausgerüstet mit den einfacheren Artefakten ihrer Zeit und ihrem Wissen über die Magie des Nebels, führte Erythil eine Gruppe erfahrener Wächter in den Flüsterwald von Erythen.

Die Wächter schritten schweigend durch den immer dichter werdenden Nebel. Der Wald selbst wirkte lebendig, und die Schatten schienen sich zu bewegen, obwohl kein Wind die Bäume bewegte. Bald wurde klar, dass dies keine gewöhnliche Nacht war. Nebelschatten glitten durch die Dunkelheit, lautlose Kreaturen, die auf die Angst der Lebenden reagierten. Schattenbestien, massive Gestalten, die aus reiner Dunkelheit zu bestehen schienen, lauerten in der Ferne. Die Wächter konnten sie nur mit vereinten Kräften und präzisen Schutzzaubern auf Abstand halten.

Erythil warnte seine Gefährten: „Diese Nacht wird uns prüfen. Haltet an eurer Aufgabe fest und lasst euch nicht von euren eigenen Schatten verführen.“

Die Gruppe wanderte stundenlang durch die veränderte Landschaft des Waldes, die sich durch den dichten Nebel wie ein Labyrinth anfühlte. Ihre einfacheren Lichtquellen wurden immer schwächer, und der Nebel begann, seine wahre Macht zu zeigen. Es formte Illusionen, flüsterte mit den Stimmen von Verstorbenen und zog die Schwachen von der Gruppe fort.

Eine Wächterin, Naerith, vernahm plötzlich die Stimme ihres lange verschollenen Bruders. „Naerith,“ flüsterte der Nebel. „Komm zu mir. Ich warte.“ Trotz der Warnungen der Gruppe wich sie vom Weg ab, verschwand im dichten Nebel und wurde nie wieder gesehen. Ihre Schreie hallten kurz, bevor sie in der bedrückenden Stille erstickten.

Erythil schloss die Augen, sprach jedoch keine tröstenden Worte. „Der Nebel fordert seinen Tribut. Nur diejenigen, die dem Pfad treu bleiben, werden das Herz der Nebelnacht erreichen.“

Nach Stunden des Marschierens, vorbei an geisterhaften Illusionen und lauernden Kreaturen, erreichten sie eine Lichtung. In ihrem Zentrum ragte ein gewaltiger Dämmerbaum auf, dessen weit verzweigte Wurzeln wie Finger der Dunkelheit den Boden durchdrangen. Zwischen diesen Wurzeln entdeckte Erythil den Nebelnacht-Kristall, ein Artefakt von unbeschreiblicher Schönheit. Schwarz wie die Nacht war er, doch in seinem Inneren tanzten goldene Lichter, wie ein gefangener Sternenhimmel.

Als Erythil den Kristall berührte, durchflutete ihn eine gewaltige Vision. Plötzlich fand er sich in einer endlosen Sphäre aus Licht und Schatten wieder. Vor ihm erschien Xylarion, ein gefallener Stern, dessen Licht und Essenz im Kristall gefangen waren. Die Stimme von Xylarion war wie ein ferner, hallender Donner, gleichzeitig aber sanft und voller Geheimnisse.

„Erythil, Wächter der Lunaris,“ sprach Xylarion, „du hältst das Gleichgewicht in deinen Händen. Meine Essenz ist sowohl ein Geschenk als auch eine Prüfung. Dieser Kristall birgt die Macht, die Schatten zu formen, die Dunkelheit zu erhellen und die Geister der Vergangenheit zu rufen. Doch sei gewarnt: Wer diese Macht missbraucht, riskiert, selbst ein Teil der Schatten zu werden. Der Weg vor dir ist einer der Weisheit und des Opfers. Wirst du bereit sein, die Dunkelheit zu umarmen, um das Gleichgewicht zu wahren?“

Erythil spürte die unermessliche Macht, die von dem Kristall ausging. Seine Aufgabe als Wächter drängte ihn dazu, diese Macht zu nutzen, doch die Warnung von Xylarion hallte in seinem Geist wider. Nach einem Moment des Zögerns sprach er: „Ich werde diese Macht bewahren, um das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten zu sichern.“

Die Vision verblasste, und Erythil fand sich wieder in der Lichtung, mit dem Kristall in seiner Hand. Der Nebel, der die Wächter umgeben hatte, zog sich zurück, und die Lichtung wurde still. Doch ein Teil der dunklen Energie des Kristalls hatte sich in Erythils Seele verankert – ein Preis, den er bereit war zu zahlen.

Nach ihrer Rückkehr ins Heiligtum der Lunariswächter, tief im Mondlichttal, begannen die Wächter, die Essenz des Kristalls zu nutzen, um ein mächtiges Artefakt zu schaffen. Aus der Dunkelheit selbst formten sie schattenhafte Ranken, die den Kristall umschlossen, und verschmolzen die magischen Nebel der Nacht mit Glas, um die Nachtglas-Laterne zu erschaffen.

Als die Laterne zum ersten Mal entzündet wurde, erfüllte ihr Licht das Heiligtum. Es war anders als alles, was die Wächter je gesehen hatten: ein silbriges Leuchten, das die Schatten nicht verbannte, sondern sie formte und ihre Geheimnisse offenbarte. Die Wächter erkannten, dass sie ein Artefakt geschaffen hatten, das nicht nur ihre Reisen erleichtern, sondern auch die Geister der Vergangenheit rufen und mit den Schatten kommunizieren konnte.

Die letzte Nebelnacht hinterließ tiefe Spuren in den Herzen der Überlebenden. Sie hatte nicht nur Opfer gefordert, sondern auch gezeigt, dass wahre Macht nur durch Opfer und Weisheit gemeistert werden kann. Die Nachtglas-Laterne wurde zum wertvollsten Werkzeug der Lunariswächter, ein Symbol für Hoffnung, Mut und die Balance zwischen Licht und Schatten.

Jedes Mal, wenn ein neuer Wächter seinen Eid ablegt, wird die Laterne entzündet. Sie ruft die Geister der Vergangenheit, um Zeugen zu sein, und ihr Licht flüstert:
„In den Schatten verborgen, im Zwielicht erleuchtet – finde deinen Weg und bewahre das Gleichgewicht.“