Die Kaskaden von Thyr’Vel – Kapitel 1

Schlagwörter: Obscyria Kontinent Sternenfluch

Der Nebel hatte hier eine eigene Schwerkraft. Er hing nicht, er kniete. Über den dunklen Klippen von Thyr’Vel zogen Kaskadenzüge aus Mondlichtessenz in die Tiefe, silberne Fäden, die aus den Mündern der Monde rannen und sich in schimmernden Becken sammelten. In den Becken lagen Astralkristalle, und jeder Kristall war ein Auge, das die Zeit vergaß und sich im nächsten Atemzug erinnerte. Es war ein Ort, der die Schritte wog, bevor er sie zuließ. Ein Ort, an dem die Namen der Reisenden im Nebel geprobt wurden.

Lysra Neth stand am Rand der Kaskade, die Kapuze des Mondsehermantels feucht von der kalten Mondlichtessenz. Ihre Haut trug den kühlen Schein der Monde; unter dem Saum der Wange glomm die feine Mondnarbe der Seher. In ihren Augen lagen zwei Ringe, innen mondblass, außen dunkel, , als hielte Sternenruf sie an seinem Rand. Nachtdunkles Haar klebte in feuchten Strichen an den Schläfen, und ihre Finger zeichneten die Leitschnitte des Sternenruf nach, als streiche sie den Saum einer unsichtbaren Sternensaite. Sie war nicht alt, doch in ihrem Blick lag die Müdigkeit einer, die zu oft die Ränder möglicher Nächte gestreift hatte.

Neben ihr lauschte Orran Tel, ein Stimmer des Schicksalsfadens. Seine Züge wirkten, als hätten stille Runen sie abgenommen; die Iriden waren aschgrau, mit feinen Schnittrillen, in denen sich Stille sammelte. Seine Haut trug den fahlen Ton alter Mondnächte, an den Schläfen mit kaum sichtbarem Runenfrost bestäubt. Er trug einen schmalen Erynthar‑Mantel aus Nachtleinen, innen mit Mondstaubsaum, der sich im Stillklang straffte; die Ärmel endeten in fingerlosen Bändern aus Runenleinen, unter denen die Mondglas‑Schiene lag. Der Thyr’Chord, eine gespannte Seelenfaser zwischen zwei Mondglas‑Knoten, in diese Schiene am Unterarm gefasst, lag an wie ein zweiter Puls. Über dem Handgelenk stand die schmale Erynthar‑Marke, die im Stillklang matt aufleuchtete; an den Stiefeln lag Nebel wie eine leise Kante.

Ysil, eine Wächterin des kalten Atems aus den vergessenen Gräbern von Eryth’Valis, hielt den Nebel mit beiden Händen, als ließe er sich beschwichtigen. Ihre Haut war reiffahl, von feinen Frostadern durchzogen; in ihren Augen lag ein dünner Rand aus gefrorener Mondlichtessenz um einen tiefen, ruhigen Kern. Ihr Haar wirkte mondblass und schwer vom Nebel. Ihre Gestalt war eine geisternde Risslinie, ihr Atem ein Hauch zwischen zwei Erinnerungen; über dem Herzplatz stand eine blasse Reifnarbe des Kalten Atems, die aufleuchtete, wenn die Stille näher trat. Ruft Ysil den Kalten Atem, sammelt sich Kälte in ihren Handflächen; der Nebel spannt sich zu einer stillen Membran, und feine Reifschrift tritt auf die Haut. Mit dem hauchleisen Velryss »Valis mor shael« legt sie den Reifschleier, ihren vertrauten Schild, über Fels und Haut und dämpft Geräusch und Druck.

„Velar shala thyren,“ murmelte Lysra. Der Nebel schützt uns. Er antwortete nicht, aber die Kaskade senkte ihren Ton, und die Mondlichtessenz trug ein mattes, aufmerksames Schimmern.

Sie waren nach Thyr’Vel gekommen, weil die Kaskadenzüge falsch sangen. In Sternenfluch verschieben sich Sterne wie Wunden unter dünnem Eis, doch dies hier war mehr als ein Rutschen des Firmaments. Die Astralchronisten hatten Bänder aus gebleichtem Staub über ihre Ziffern gelegt, und dennoch verspäteten sich die Prophezeiungen unter Sternenrufs Zwang um Herzschläge. In den Hafenklüften der Sternenweber hingen Nebelgleiter reglos, als warteten sie auf einen Takt, den niemand anstimmen wollte.

Auf der dritten Stufe der Kaskade lag ein Kreis aus eingebrannten Zeichen. Runen, die nicht geschrieben, sondern aus Erinnerungen geboren wurden. Ysil legte kniend ihre blassen Finger auf die Wärme, die längst vergangen sein sollte. „Hier hat etwas sein Gewicht verloren,“ flüsterte sie, und das Flüstern war dicker als Luft.

Orran antwortete nicht. Er hob den Thyr’Chord und ließ die Saite ohne Anschlag schwingen. Keine Schwingung, nur der Bruch einer Erwartung, und in diesem Bruch öffnete sich etwas. Kein Tor. Kein Loch. Ein feinfaseriger Vorhang aus kalter, reinster Möglichkeit. Yvorith’Kai, das Sternengewebe, hob für einen Atemzug den Schleier, ließ seine Fäden sternkalt aufglimmen und schloss sich wieder, als dürften Velarun nicht länger als einen Puls darin atmen.

„Die Kaskaden sind verbunden,“ sagte Lysra. „Nicht mit den Flüssen. Mit den Kaskadenzügen von Thyr’Vel, den Mondlichtessenzquellen der Region. Irgendetwas zieht daran.“ Sie nannte keinen Namen, aber in Sternenfluch genügt oft das Nichtgesagte, um Mächte zu wecken.

Sternenruf wechselte die Laune, und das Zwielicht faltete sich tiefer. Obscyria kennt keinen Wechsel von Tag und Nacht, nur Phasen der Monde, in denen das Licht anders fällt: mondblass, Kosmos nah, von Magie leise erhellt. Alles war sichtbar genug, um zu finden, und dunkel genug, um Geheimnisse zu lassen.

Sie schlugen ihr Lager unter einem ausgehöhlten Vorsprung auf, in dessen Innerem alte Essenzgravuren flimmerten, die Art von runengekoppelten Linien, die Runenschmiede unter Mondatem schneiden, wenn sie etwas binden wollen, das keinen Körper hat. Ysil hielt Wache, doch wache halten hat hier eine andere Bedeutung: Nicht die Welt bewacht man hier, sondern die Fäden, die jeden von ihnen an sie knüpfen.

Als der Nebel stiller wurde, kam der Chor. Nicht Laut, sondern flüsternd, widerhallend in den Gedanken jedes einzelnen. Eine Vielheit von Wahrheiten, die einander nicht duldeten, und doch jede für sich vollkommen war. Orran krampfte die Finger um die Mondglas‑Knoten der Saite; Lysra legte ihr Stirnzeichen frei, der hauchdünne Riss aus Mondlicht, der sie mit den Phasen verband. Ysil wandte sich in Richtung der Kaskade und sah ihr Spiegelbild, aber es war eine Abweichung ihrer selbst. Eine andere Ysil, welche denselben Schwur brach und dennoch hielt.

„Ith’valar,“ formte Lysras Mund ohne Stimme.

Der Rufer der Unendlichen Stimmen war nicht zu sehen. Er ist nie an einem Ort. Er ist dort, wo Worte zu Schwertern werden. Die Kaskade begann, Fragen zu stellen, und die Fragen klangen wie Erinnerung. Wer wart ihr, bevor euch der Nebel kannte? Welche Nacht hat euch gezählt? Wem gehört euer Name, wenn ihn die Monde zugleich sprechen?

„Nicht antworten,“ sagte Orran mit jener ruhigen Härte, die nur von denen kommt, die gelernt haben, sich selbst zu binden. „Wir geben eine Frequenz.“ Er spannte den Thyr’Chord an den Fels; Lysra zeichnete einen Halbkreis aus Mondglut; Ysil legte ihre Hände in den Fall und ließ die Kälte durch sich hindurch.

Resonanz ist in Sternenfluch kein Gegenschlag. Sie ist ein Kompromiss, den man mit dem Riss der Welt schließt. Die Saite summte ohne Ton, ein stiller Druck, der die Vielheit sortierte. Lysras Zeichen hielt die Ordnung der Kaskadenzüge, wie eine zarte Schwerkraft für Überzeugungen. Ysil bot, was eine Wächterin des kalten Atems bietet: eine Lücke im Stoff der Dinge, durch die der Überschuss abfließen konnte. Der Chor verstummte nicht. Er wurde lesbar.

Für einen Atemzug hob Yvorith’Kai die Haut der Zeit an: Thyr’Vel zeigte sein Fallen, eine Kaskade, die keine war, sondern ein hängendes Band aus gefrorener Zeit. Sie sahen Sternenbrücken, die aus dem Nebel aufstiegen, und darunter: einen Monolithen, glatt und seltsam warm, geschmückt mit wechselnden Runen, die nie dieselbe blieben. Xaer’ythuls Zeichen. Der Letzte Zeuge hatte hier gesehen, und sein Blick war ein Urteil, das nie zu Ende gesprochen wurde.

„Er hat nicht gelöscht,“ sagte Lysra, als der Blick riss. „Er hat gewogen.“

„Und etwas fand keinen Platz mehr,“ ergänzte Ysil. “Darum verschieben sich die Kaskadenzüge. Sie suchen, wohin mit dem, was ausgestrichen wurde.“

In der Zwielichtdämmerung, ein Wort für die Stunde, in der die Kälte Entscheidungen leichter macht, stiegen sie hinab. Die Stufen waren feucht von sickernder Mondlichtessenz, die unter ihren Sohlen wie hauchdünner Kristall knirschte. In der dritten Beckenmulde lag der Monolith, halb im Wasser, halb im Nebel. Er war aus keinem Stein. Er war aus Erinnerung, komprimiert, bis sie Gewicht bekam.

Lysra kniete, zog mit dem Fingernagel die Kante einer Rune nach; sie glitt unter dem Nagel fort wie Öl. „Runen des Nichts,“ sagte sie, „aber gebrochen. Hier wollte jemand löschen und hat nur ausgehöhlt.“

Orran setzte die Saite an den Fels, und die Luft warf ihre Schultern zurück. Linien aus hellem, kaltem Schall zogen über die Oberfläche, fanden Halt an einem Muster, das sich mitten im Verschwindenden standhaft weigerte. „Jemand hat widersprochen,“ flüsterte er. „Mit Klang.“

Ysil atmete, und ihre Brust blieb einen Herzschlag lang durchsichtig. „Vielleicht war es ein Name.“ Sie legte die Hand auf den Monolithen. „Vielleicht meiner.“

Der Nebel hielt den Atem an. Ysil sank durch. Kein Fallen, nur das Nachgeben einer Grenze, die zu müde war. Lysra griff zu spät, Der Thyr’Chord sprang; die Saite riss in zwei stille Enden, und der Monolith war auf der Innenseite der Welt.

Sie folgten Ysil nach innen, nicht weil Mut das gebot, sondern weil Thyr’Vels Kaskadenzüge sie bereits verzeichneten und Yvorith’Kai sie zog. Das Sternengewebe öffnete sich wie ein Netz, das sie kannte. Fäden, so fein wie Reif auf altem Mondglas, spannten sich zwischen Möglichkeiten. Dort, wo Ysil lag, war eine Delle. Kein Loch. Eine Traurigkeit mit Form.

„Wenn wir ihn ziehen, reißt etwas,« sagte Lysra. »Wenn wir ihn lassen, fällt Thyr’Vel weiter.“

Orran zog die gerissenen Enden der Saite zusammen, spannte sie zwischen die Mondglas-Knoten und legte dazwischen eine Stimme. Nicht seine. Eine Stimme, die hier nicht gesprochen werden durfte. Mondlicht, destilliert zu Ton. „Wir nähen nicht,“ sagte er. „Wir stimmen.“

Das Gewebe antwortete mit einem langen, geduldigen Zittern. Lysras Zeichen entfaltete seine Phasen, jeder Bogen ein Versprechen an die Kaskadenzüge, dass sie wiederfinden konnten, was ihnen genommen worden war. Ysil öffnete ihre Hand und zeigte, was in ihren Händen bleibt, wenn alles andere fort ist: ein Splitter von Wärme, magisch pulsierend, bei jedem Puls sickert ein Hauch kosmischer Erkenntnis nach außen, aber er hat keine feste Form, sondern er besteht aus Bedeutung.

„Namen sind Leuchtfäden,“ sagte sie heiser. „Wenn man sie beschließt.“

Sie drückte den Splitter in die Delle, und der Nebel schnitt das Zittern in feine, tragfähige Linien. Thyr’Vels Kaskadenzüge setzten auf. Nicht wie früher; nichts kehrt in Sternenfluch zurück, ohne eine Narbe. Aber sie fanden Halt, und die Kaskaden sangen wieder, tiefer, müder, wahr.

Als sie aus dem Gewebe fielen, lag Ysil neben dem Monolithen, der keiner mehr war. Ein Stein ohne Schrift, kühl und leer, wie ein Gefäß, aus Mondglas, dem die Mondlichtessenz entzogen war, als hätte die Stille ihm das Leuchten abgenommen. Lysra strich Ysil eine Erinnerungsfaser von der Stirn, die nicht dorthin gehörte, eine Erinnerung, die sich einen Körper gemietet hatte. „Welche bist du?“ fragte sie leise.

„Die mit dem Splitter,“ antwortete sie und lächelte, als müsste sie einen Preis vergessen, um ihn zahlen zu können.

Über Thyr’Vel zogen die Kaskadenzüge langsam, als schleppten sie Ketten. Orran blickte hinauf und sah, wie ein einzelner Faden nicht in die Ordnung zurückfand: ein dünner, bläulicher Strich, der sich vom Rest trennte und in die Ferne zeigte, dorthin, wo der Nebel dunkler als Finsternis war und die Kälte Gedanken an sich band. Elyth’Nir atmete. Nicht hier, nicht jetzt, aber bald.

„Wir haben etwas verschoben,“ sagte Lysra, mehr zum Nebel als zu ihren Gefährten. „Sternenruf wird es zählen, die übrigen Monde werden lauschen. Die Chronisten auch.“

„Und Xaer’ythul?“ fragte Ysil, ohne aufzusehen.

Orran hob den geflickten Thyr’Chord, hörte sein Schweigen, als wäre es ein Urteil. „Er sieht nicht alles,“ sagte er. „Nur das, was stehen bleibt, wenn du aufgehört hast, dich zu bewegen.“

Sie stiegen aus der Mulde und ließen den leeren Stein zurück. Auf dem Rand der Stufe wartete ein Wesen, das mehr Faden als Gestalt war, eine Fadensängerin, deren Hände wie Gespinste aus Sternstaub hingen. „Ihr habt den Ton verändert,“ sagte sie sachlich. „Thyr’Vel wird euch dafür in seine Legende einweben, aber Legenden sind hungrig.“

„Was frisst diese?“ fragte Lysra.

„Zeiten,“ antwortete die Fadensängerin. „Nichts, das ihr gerade braucht, bis ihr euch erinnert, dass ihr es brauchtet.“ Sie neigte den Kopf, als lausche sie auf einen fernliegenden Regen. „Geht. Kaskadenzüge ruhen selten zweimal am selben Ort.“

Sie gingen. Hinter ihnen rollten die Kaskaden mit neuer Müdigkeit, vor ihnen lag der schmale Pfad der Nebelstufen, die hinabführten zu den Hafenklüften, wo die Nebelgleiter wieder atmeten. In ihren Taschen lag kein Artefakt, kein Trophäenstück. Nur ein paar feine, fast unsichtbare Fäden an ihren Handgelenken, die Art von Fäden, die Yvorith’Kai, das Sternengewebe hinterlässt, wenn es hofft, dich wiederzusehen.

Am Ausgang der Schlucht hielt Lysra inne. „Nythorûn rückt an,“ sagte sie, und ihre Stimme war weder freudig noch bang, sondern eine Notiz, in die jemand später Schuld schreiben würde. „Vielleicht nicht groß. Vielleicht nur für uns.“

Orran nickte. „Ein persönlicher Kaskadenzug.“

Ysil sah in den Nebel, der sie zärtlich verbergen wollte. „Wenn die Monde fragen,“ sagte sie leise, „sagen wir, wir hätten nur einen Namen gesetzt.“

Der Nebel schwieg zustimmend. Und irgendwo, dort, wo der Letzte Zeuge seine Runen wechselte, blieb für einen Atemzug eine Form stehen, die Form eines Blicks, der nicht löschen wollte. Nicht heute.

Die Kaskaden von Thyr’Vel sangen weiter, und ihr Lied trug den Geschmack von Metall, von Schlaf, von jener sanften Hoffnung, die sich nur dann zeigt, wenn sie weiß, dass sie nicht bleiben darf.