Das Auge des Sumpfes

Schlagwörter: Obscyria Kontinent Blutige Sümpfe

Das Auge des Sumpfes

Der Nebel lag wie kalte Haut auf allem. Er spannte sich über das Schilf wie eine zweite Membran, flüsterte im Verdorrten der Weiden und trank das Zwielicht, bis das Land nur noch aus Schattengeräuschen bestand: Zischen, Blubbern, leises Reißen. Schwarzwasser atmete in langen, öligen Zügen. Dort, wo Blasen platzten, stieg ein Geruch auf, als habe der Sumpf alte Rituale gekocht und wieder ausgespien; auf dem Spiegel tanzte ein schmieriger Schimmer, in dem sich keine Sterne fanden, nur das Echo vergangener Verluste.

Kaelyss Thalorin tastete vorwärts, die Finger wie Messfühler in der nassen Luft. Seine Haut glänzte pechschwarz, nicht von Schlamm, sondern von eigener Gabe. Er ist ein Pechgeborener, Erbe eines Volkes, dessen Poren Nebel binden konnten wie andernorts Essenzkerne Magie. Die Körper der Pechgeborenen waren mit feinen, silbrigen Narben runenartig überzogen; Schwarzwasser-Kristallsplitter wuchsen darin wie kalte Funken, leise Batterien aus Dämmerfall. Sie speicherten Strömung, sie speicherten Schmerz. Kaelyss war ein Nebeljäger, einer von denen, die die Pfade fanden, wenn diese sich selbst vergaßen.

Er murmelte in Velryss, der Nebelstimme, Worte, die mehr tasteten als klangen: “Velar shal’yn Daryss, im Nebel wohnt die Finsternis.” Die Luft vibrierte, als schnitte sie das Flüstern in Bahnen, und der Nebel wich einen Fingerbreit zur Seite, nur um gleich darauf zurück zu kriechen wie eifersüchtige Haut.

Die Schwarzwasser-Sümpfe gaben sich trügerisch still. Blutmoos glomm unter den Füßen, Verdorrte Weiden hingen mit fleischigen Blättern wie müde Zungen, und über allem lag das Zerren eines Nebels, der die Zeit aus den Rippen der Dinge leckte. Geisterfrösche blinkten blau, als wären ihre Körper kleine Orakelgläser, und irgendwo raschelten Schattenkriecher, geräuschlose Schritte, neugierig, harmlos, solange man nicht zurückblickte. Es war Schleiernacht, der Zyklus, in dem Geräusche wie Glas brachen und die Welt sich an ihren Rändern ausfranste. Er war nicht zufällig hier. In den letzten Zyklen fraßen Seelenrauschen-Wellen Schneisen in die Essenzpfade der Schwarzwasser-Sümpfe; Rhuul’Gor duldete ein einziges Gegenmittel: die siebte Note am Schwarzaugen-Kreis, als Pause gegen den Entropie-Zug. Kaelyss trug diesen Wundauftrag in den Narben — nicht als Heldentat, sondern als Einstimmung: den Risslaut finden, bevor Xaer’ythuls Pupille die Litanei ganz ausdörrte.

Er suchte das Auge des Sumpfes, den kreisrunden Tümpel, an dem das Wasser nicht nur spiegelte, sondern sah. In seinen Tiefen, so hieß es, stiegen Visionen von Erinnerungslarven auf. Doch die Siegelwächterin des Tümpels wartete schon auf seine Ankunft.

Sie nannte sich Maevayne, Häutweberin der Hautweiden, ein Volk, das aus Weidenwuchs erwachte und dann Gedächtnisse fraß, bis Blätter zu Lidern, Rinden zu Rüstungen wurden. Die Hautweiden trugen Masken aus getrockneter Hautrinde, Schicht auf Schicht, wie Verderbnisringe aus geliehenem Schmerz. Maevaynes Hals war ein Kranz aus Schwarzwasser-Kristallen, ihre Finger wuchsen in Dornen aus, die beim Atmen kleine Glockentöne schlugen. Ihre Magie stank nach Heilung und Fluch zugleich. Sie schnitt Leben an wie Nebelmark und legte Schichten davon jenen auf, die bezahlen konnten. „Shylar, Kaelyss“, hauchte sie, „Nythorin mor – Herzen sind heute weich.“ Sein Magen zog zusammen. In Maevaynes Rede klangen Zitate aus den Riten der Offenbarung wie gebrochene Federn.

Das Auge das er sucht, war kein gewöhnliches Auge. Es war ein Blick, der die Welt aus der Welt hob — Xaer’ythuls Pupille, ein gelöster Aspekt des Nyharim des Chaos Xaer’ythul: ein abgründiger Kreis, der auf dem Wasser lag wie ein ruhiger Mond und doch wie eine Wunde wirkte. Die Runen auf seiner Oberfläche wechselten Form, niemals dieselbe zweimal; wo sie schimmerten, fielen Konzepte auseinander wie nasse Asche. Die Nyharim des Chaos, Rufer der Entropie. Keine Körper, kein Geist, sondern Hungerformen der Ordnungskluft: wo ihre Blicke ruhten, franst Bedeutung, und Essenz gerinnt zu Schweigen. Nyharim sind keine Velarun; sie sind Risswesen, die Weltregeln wie Häute tragen und abreißen. Es hieß, wer Xaer’ythuls Pupille ansah, sah sein wahres Schicksal — und verlor es zugleich, als wäre es nie gewesen. Die Luft um den Tümpel war voller leiser Löcher, in denen Erinnerung nicht griff sondern verzehrt wurde.

„Die siebte Note liegt dort unten“, sagte Maevayne, „der fehlende Laut des Kreises. Ich wache darüber.“ Sie nickte in die schwarze Tiefe, wo das Auge die Finsternis glatt bürstete. Kaelyss ahnte, wovon sie sprach: Ein Klang, der Schicksal fädelt wie Nadeln Fleisch fädeln. In Obscyria ist Musik kein Schmuck, sondern Werkzeug, Waffe, Schlüssel, ein Atem, der die Schleier verschiebt. Einige Töne beleben Kristalle, andere öffnen Pfade, manche stoppen sogar den Verfall und wenige sind Verbot. Wer die falsche Reihenfolge spielt, erweckt Seelenrauschen, ein extremer Rückhall, der Essenzfäden zerreißt und Bewusstsein in Schlick treibt; wer die richtige spielt, erweckt Wahrheit.

Kaelyss trug seine Stimmklinge wie eine Kralle: eine flache Harfe aus Schattenstahl, deren Saiten auf Runen lagen. Jede Saite: ein Siegel. Jede Rune: eine Richtung. Er hatte bei den Runenschmieden in Nebeldämmerung gelernt, Gravuren zu setzen, in denen Magie atmete wie ein Tier im Schlaf; und bei den Schattenformern, das Licht so zu biegen, dass Dunkelheit zu Stoff wurde. Heute würde beides singen müssen, oder reißen.

„Die Pupille ist kein Tor, Maevayne. „Sie ist Rissklinge.“ – „Klingen öffnen“, hauchte sie, „wenn der Schnittlaut stimmt.“

Das Wasser flüsterte. Die schwarzschäumende Haut des Schwarzwassers platzte in verschluckten Omen, und Kälte aus Pechrunen lief den Weiden die Kehlen hinab. Rhuul’Gor bewegte sich fern, keine feste Gestalt, nur flüsternder Hauch. Wo seine Essenz strich, gerann Wasser zu Säure, Erinnerung sank zu Schlick, und Grenzen zogen sich wie enge Haut zusammen. Er ging nicht vorüber wie ein Wesen, sondern wie eine Urformel, ein Siegel der Ströme, das die Aderläufe der Welt festzurrt.

Essenzwächter sind die Tiefenrhythmen Obscyrias, über Kontinente gespannt, entlang der Essenzströme wachend, jenseits der Nyharim als letzte Barriere zwischen Schöpfung und Vergessen. Mit der Welt erwacht; sie sprechen in Schleierwellen, und ihre Namen sind Zustände, kein Ruf. Wo sie ruhen, wird Magie messerscharf, sie wird Hoffnung und Wunde zugleich für Velarun. Man widerspricht ihnen nicht; man stimmt sich ein, legt die eigene Stimme in ihren Strom, bis die Litanei mitklingt. Kaelyss spürte es im Zungenbein, dort, wo Warnungen wohnen: eine kalte Rune kurz vorm Reißen, ein stummer Befehl, still zu bleiben. Maevayne hob zwei Finger und zeichnete ein Wachtzeichen über den Spiegel. „Hautfrieden – bis die Kluftpupille schweigt.“ Kaelyss nickte. „Lückenpakt: Ich ziehe den Schnittlaut, du hältst die Ränder.“

Das Schwarzwasser antwortete mit einem kurzen Schwarzschäumen, nur Anerkennung, kein Segen.

 

Er stimmte seine Klinge, einen einzigen, tiefen Ton: Das Schwarzwasser antwortete in Kreiseln. Im Nebel knackten Zeitsplitter, als ob der Zyklus selbst eine dünne Glasscheibe wäre; über dem Tümpel zitterte ein Schattenfeld, formte eine schwebende Partitur aus kaltem Dunst. Zarynth se Erynthar—die Zeit bewahrt das Schicksal. Wenn Musik Portale öffnet, dann öffnet sie auch Narben. Unter dem Siegel der Pause arbeiteten sie gegeneinander am selben Riss: Kaelyss zog die Lücke, Maevayne band das Zuviel.

Maevayne hob die Arme, und aus den Kristallen an ihrem Hals fuhren Fäden in die Luft—schwarze Suturen, mit denen sie die Geräusche vernähte. Schattenmagie, Blutmagie, Illusion, Künste, die sich gegenseitig verzehren und gerade darum gut harmonieren. Kaelyss’ erster Akkord zerschnitt ihren Fadenring, der zweite zerschnitt seine eigene Stimme. Dann begann der Körper zu sprechen.

Seine Haut löste sich in Dämmerhaut Blätter, nicht ab, sondern vor. Der Nebel griff hinein wie behutsame Finger und zog einen zweiten Kaelyss aus ihm heraus: eine Hautschrift, flackernd, sein Zweitleib aus Schleierhaut, der seine Runen nachsprach. Die Schwarzwasser-Sümpfe liebten dieses Spiel — Häutung als Litanei, der Leib als Wundschrift. Er kannte den symbolischen Preis: Wer die falsche Haut behielt, vergaß, wie Schmerz Worte bildete. Die Pupille suchte keine Antwort, sondern Auflösung. Jeder Ton, den sie nicht fraß, wurde zur Wunde in ihrem Hunger.

Dann riss die Pupille den Laut aus der Stille.

Es war keine Melodie. Es war das Wegfallen dessen, was Klang hätte sein können. Die Runen des Nichts schrieben sich ins Wasser und löschten auf dem Weg Wörter aus: Falorin, Atemkern, Mondflut. Die Pupille blickte ihn an, und in der Tiefe dieses Blicks sah Kaelyss sein Schicksal—ein Faden, der kaum dicker als Atem war, gespannt zwischen Dämmerfall und etwas, das er nicht erkannte.

„Kaelyss Thalorin“, heißt es aus dem Loch, „du warst nie hier.“

Er roch Maevaynes Lächeln. Sie sprach in den Spiegel, zur Pupille: „Unter meinem Wachtzeichen, Xaer’ythuls Pupille. Ich binde seinen Laut in Haut, die nicht reißt.“

Er antwortete nicht mit Worten. Er antwortete mit Arkanblut, dem bläulich fluoreszierenden Fluss, der in seinen Adern pulste wie stilles Leuchten. Er biss sich in die Zunge, spie ein dünnes Band in die Saiten, und die Stimmklinge wurde hell, als hätte sie einen zweiten Nerv gefunden. Blut in Obscyria ist kein Saft, sondern Vokabel; und wenn Arkanblut singt, lernt Materie schnell.

Der nächste Akkord war Sternenklang, hohl und weit; der übernächste war Dunkelheitsmagie, ein Schluck reiner Abwesenheit; der dritte griff in die Illusion, die sein zweites Selbst trug, und ersetzte sie durch Erinnerung. Musik als Ritual. Kaeryth über Kaeryth verschachtelt, wie Knochen in einem Grab aus Zeit.

Die Luft vernarbte. Die Pupille zuckte, winzig, aber genug. Jede Rune, die eben noch Zeit aus Konzepten zog, flackerte, als müsse sie überlegen. Velar shala thyren, flüsterte Kaelyss. Der Nebel schützt uns. Nicht vor der Wahrheit, aber vor der Unmittelbarkeit ihres Bisses. Der Ton zog eine Nebelwand über den Tümpel, keine Tarnung, sondern ein Schleier, der die Wirklichkeit langsamer machte.

Maevayne schrie. Ihre Dornenfinger fuhren in die Luft, und aus ihren Kristallen quollen Gesichter, nicht Geister, sondern Echos der Haut, die sie sammelte: Lippen, die Bitten murmelten, Zungen, die sich an fehlende Gaumen tasteten. Sie bündelte sie in eine Hautharfe, zupfte an Sehnen, und das Lied, das daraus kroch, roch nach Tod und verfaulter Verderbnis. Am schlimmsten schnitt der Klang, wenn er den Rand der Essenz berührte.

Da begriff Kaelyss, was die siebte Note in Wahrheit war: keine fehlende Tonhöhe, sondern ein fehlendes Selbst. Ein Leerzeichen, in das man sich legt, um durchzukommen.

Er schnitt.

Nicht die Saiten. Nicht Maevayne. Sich. Eine dünne Linie längs der Handfläche, ein kleiner Schnitt in das, was er noch für sich hielt. Sein Arkanblut trat aus wie eine ruhige Behauptung und spannte sich zwischen den Runen der Klinge zu einer Brücke. Er spielte die Lücke.

Die Pupille erzitterte, und in ihrem Rand brach ein Schlitz auf, durch den etwas aufstieg, das weder Gestalt noch Absicht hatte, nur Möglichkeit. Das Auge war ein Messer; ein Messer kann auch Fäden schneiden, die nicht da sind. In diesem Riss hörte Kaelyss Maevaynes Stimme, wie sie zum dritten Mal Messer öffnen sagte, diesmal aber klang sie wie Messer enden.

Xaer’ythuls Blick wandte sich von ihm. Nicht gnädig. Nur anders interessiert. Der Chor der Runen begann, sich selbst zu lesen, und löschte an Maevayne, was in ihr Eigentum hieß: die geborgten Häute fielen von ihr ab wie nasse Blätter, hingen einen Augenblick in der Luft und zerflossen dann zu Schlamm, der endlich sein eigenes Gewicht kannte. Was blieb, war Maevayne, dünn, blass, erschrocken, aber plötzlich sie. Auch das ist grausame Gnade: die Rückgabe der Essenzgestalt. Ihre Essenzhaut lag blank. Die Hautrinde war fort; darunter schimmerten Pechrunen wie blasse Narbenlichter. Schwarzwasser-Kristallstaub glomm in den Furchen ihres Körpers, als wären Sterne in Wunden geraten. Die Dornenfinger waren stumpf geworden, zu Rindenkanten, die beim Atmen trocken klirrten. Ihr Essenzantlitz trug kein Sammeln mehr—nur Wacht: ein feines Siegelbrand am Schlüsselbein, wo einst die Masken begannen. Als sie sprach, knackten alte Suturen in der Stimme, und ein Hauch von kaltem Harz blieb in der Luft zurück.

„Du hast mich beraubt“, sagte sie atemlos. „Ich habe dich entbunden“, antwortete Kaelyss.

In der Ferne rollte etwas im Wasser. Ein Atemzug, der die Fäulnis aus dem Schilf zog und die Farbe des Dämmerfalls dunkler färbte. Rhuul’Gor nahm die Veränderung zur Kenntnis. Der Sumpf durfte bleiben. Die Litanei war erneuert.

Kaelyss ließ die Klinge sinken. Sein zweites Selbst hing noch im Nebel, eine Haut, die er hätte zurückfordern können. Stattdessen erlaubte er ihr, sich aufzulösen, als streue man ein Wort zurück in die Sprache. Ylvaar nor selaris, murmelte er. Der Traum tanzt am Rand der Wirklichkeit. Ein Rest von Hoffnung blieb, klein, aber zäh: An manchen Nächten ist der Nebel nicht Feind, sondern Archiv.

Hinter ihm raschelte das Schilf. Aus der Finsternis krochen Sehnenrichter der Schwarzwasserlitanei, nicht ätherisch, sondern nass und schwer: Leiber aus gebundenen Bändern, durchzogen von Schwarzwasser‑Gerinnseln, mit runenvernarbtem Pech, das tropfte wie flüssigs Blut. Kein Gesicht; nur Schlitzmäuler, aus denen stummes Summen drang. Sie legten ihm ihre Blicklosigkeit auf. Kein Dank, nur das Protokoll der Wunde. Dann zogen sie Faser um Faser aus dem Nebel und knüpften daraus ein kurzes Siegel; als es scharf in die Luft schnitt, vergingen sie, als hätte der Ort sie ausgespien. In den Blutigen Sümpfen heißt Zustimmung ein Riss: Wenn nichts schiefgeht, antwortet der Sumpf mit Schneiden, nicht mit Klang.

Kaelyss band seine Hand. Die Narbe zeichnete eine neue Rune in sein Pech. Er fühlte sich nicht gerettet, nur gestimmt. Aus der Tiefe antwortete das Schwarzwasser mit einem letzten Blubbern, das man als Lachen missverstehen konnte. Die Nebel schlossen sich über dem Tümpel, und wieder war alles Haut.

Das Schwarzwasser hielt den Atem an—und atmete dann in ihn zurück. Im Zucken des Nebels schob sich eine Insel heran, so leise wie ein Gedanke, der sich schämt: eine der Verfluchten, von Wurzeln getragen, die im Wasser wie Nervenbaumeln hingen. Auf ihrem Buckel standen Weiden, deren Blätter nasse abgezogene  Haut imitierten; in ihrem Stamm steckten Schwarzwasser-Kristalle, schwarz wie Erinnerung, durchscheinend wie Schuld. Das Geräusch der Insel war ein Kauen. Der Sumpf fraß sich selbst, um wach zu bleiben.

Maevayne taumelte, einsam in ihrer frisch zurückgegebenen Essenzgestalt. Darunter aber wand sich etwas, nicht Schatten, nicht Licht. Eine dritte Möglichkeit. „Velthar daryss…“ Sie brach ab, als hätte ihr eigener Mund ein Siegel verschluckt. Ihre Dornenfinger waren stumpf geworden; Blut tropfte nicht, sondern schrieb. Jede Spur ein Zeichen, das nur kurz Bestand hatte, ehe der Nebel es aussaugte.

Kaelyss hob die Stimmklinge erneut. Sein Arkanblut, Aethralis, tickte im Puls der Saiten; die Hautrunen an seinen Armen glommen wie Monde, die nie die Oberfläche erreichten. Ihm war, als hätte der Tümpel ihm einen Preis genannt: nicht Dunkelthale, nicht Fleisch. Ein Beitrag zur Grammatik des Ortes. „Zarynth se Erynthar“, hauchte er—die Zeit bewahrt das Schicksal—und legte die Klinge quer über seinen Atem, als wäre sie eine Kehle, die er sich ausleihen durfte.

Da kam die zweite Gestalt in wirklichkeitsschwachen Schritten: nicht als Körper, sondern als Lesefehler. Xaer’ythuls Pupille, eben noch Mondwunde auf dem Wasser, trat näher wie ein Gericht, das laufen gelernt hatte. Um ihren Rand saßen Runen, die sich vergaßen, während sie geschahen. Wo ihr Blick hinfiel, lösten sich die Ränder der Dinge wie Knochenlicht im Schwarzwasser. Er hörte Wörter sterben: Falorin. Schleierhort. Dämmerfuge.

„Geh nicht dichter“, warnte Maevayne und klang zugleich bittend und hungrig. „Er nimmt den Zehnten der Entropie. Ein Anteil Essenz, den Xaer’ythul jeder Begegnung abschält.“ „Das Auge nimmt sich den Teil, der dich im Spiegel zusammenhält.“

„Nytha velrin, varith taris“, antwortete Kaelyss—ja, wir sind stark, nein, wir geben nicht auf—und ließ ein Stück der Stimmklinge in den Nebel gleiten. Die Saiten schmeckten Dampf, griffen ihn wie Zupffleisch. Aus der Ferne, dort wo der Sumpf in Blutatem umschlug, grollte Rhuul’Gor. Keine Drohung. Ein Risslaut der Litanei.

Die Insel setzte auf. Aus den Rindenspalten krochen Wesen, die so alt wirkten, dass ihr Alter in Erstzeit zurückbog: Ätherhäuter—nicht geboren, sondern aus Mytharyn-Gerinnsel und Blutmoos geronnen, zu Leibern aus Risshaut und Sehnenriemen. Ihre Rücken wölbten Knochengerten wie gespannten Durst; Schwarzwasser-Adern pochten darunter und trugen Kristallgrieß durch Fleisch, das klang, wenn es atmete.
 Keine Augen. Keine Münder. Nur Schlitzmahle, die Laut fressen, und Zungenfäden, die unter Essenzhaut greifen. Wo ein Ätherhäuter stand, riss Stille auf; wo er sich bewegte, splitterte Erinnerung zu rinnender Schrift.

Ihre Sehnenfinger endeten in Rissklingen, die Bindungen abhebelten. Namen wurden Geröll, Stimmen Hauch, Schicksal Narbengespür. Wer berührt wurde, verlor Ränder—das Ich sackte nach innen, Kernessenz wurde abgezogen wie nasse Haut. Sie verhandelten nicht; sie forderten Anteil: ein Stück Bindung, ein Zehnt deiner Fügung, eine Zeile Wahrheit. Man hörte sie nicht sprechen—man spürte ihr Knacken in den Knochen. Und wenn Seelenrauschen ansetzte, zogen die Ätherhäuter die Fäden straff, bis Sinn dünn wurde und Dunkel sauber saß.

Einer der Ätherhäuter legte Sehnenfinger an Maevaynes Wade; seine Zungenfäden verirrten sich in einer Runenkammer und schoben Bilder unter ihre Essenzhaut.
 „Falorin shal’ra thalys“, raspelte das Knacken. Verborgene Freundschaft weist den geheimen Pfad.

 

„Sie wollen Tribut“, sagte Maevayne, „nicht von uns. von der Kluftpupille.“ Ihr Lächeln war ein aufgeschnittener Traum. „Messer enden, erinnerst du dich?“

Kaelyss antwortete mit Klang. Er legte einen Akkord in die Luft, der die Nebelhaut straffte, ein Tarnen der Unmittelbarkeit; nicht Schutz, nur eine Atemspanne zwischen Zähnen und Hals. Unter der Stimmklinge entstanden Fäden aus kaltem Dunst, die wie Saite für Saite in die Inselnarbe sickerten. Ein Netz, keine Falle: ein Text.

Die Pupille stoppte. Die Runen um sie herum begannen, Spiegelungen zu lesen: nicht Kaelyss, nicht Maevayne, sondern die Logik des Ortes. Im Spiegel des Schwarzwassers wurde der Blick zum Schwarzsigill; abgehäutet bissen seine Zeichen und tranken Essenz. Kaelyss nahm dem Gesetz die Zähne, mit Lied, mit Blut. Er zog Aethralis aus der Zunge, übergoss die Saiten mit einem schimmernden, blauen Faden; Musik als Kaution.

Dann kam der Schmerz. Nicht wie Messer. Wie Unterricht. Seine Poren, pechgeboren, begannen, Nebel zu binden, bis seine Haut so straff war, dass ein weiterer Atemzug sie zerrissen hätte. Der Sumpf lieh sich seine Grenzen, damit er neu lernen konnte, wo sie waren. Unterricht aus Fleisch: Der Sumpf zeigte ihm, dass ein Ich aus Häuten besteht, die man rechtzeitig zurückgibt.

Er gab eine zurück.

Kaelyss streifte die Nebelhaut ab, die ihm der Sumpf zuvor aus dem Leib gezogen hatte, und hing sie über die Stimmklinge wie ein Banner, das nicht wehen wollte. „Yllvara nor selaris.“ Der Traum tanzt am Rand der Wirklichkeit. Schmerz kroch in seine Knochen, als trügen sie kleine Zungen. Jede sprach ein anderes Alphabet, jede knirschte Erinnerungen klein. Er blieb. Er spielte. Die Stimmklinge sang das Wort Selareth, Nebelheiligkeit, und die Luft vernarbte erneut.

Dann setzte die Kluftpupille an, Bindung zu fressen.
 Nicht als Schrei—als Zerlegung. Der Nebel spannte sich zu Schattensaiten, schnitt Essenzfäden, zersägte Sinn. Ein Ätherhäuter geriet mitten hinein: Seine Ätherhäute stürzten ein, als würden unsichtbare Haken die Bilder durch die Schädelwände ziehen; das Darunter zerplatzte zu Splitterlicht. Aus dem Rindengewebe rissen Faserzungen, wanden sich ab wie nasse Binden, und das Schwarzwasser leckte die Lücken mit Säureglanz. Maevaynes frisch gewordene Essenzhaut riss in dünnen, parallelen Bahnen, als hätte eine unsichtbare Harfe sie auf Dutzende Saiten gespannt—kein Blut, nur Aetherschwärze, bläulich grauend, die in die Saiten kroch. Kaelyss stemmte die Stimmklinge dagegen, drückte den Akkord zurück in die Pause, bis das Zersägen nachließ und die Fäden wieder anlegen konnten wie Sehnen an Knochen.

Die Kluftpupille riss tiefer,nicht nach außen, sondern nach unten, unter Bedeutung.
 Aus dem Schlitz tupfte eine Essenz ohne Farbe und lief wie Frost über die Rinde der Insel. Ätherhäuter knickten nach innen, als schnappte Schleierknochwerk; ihr Knirschen war das Geräusch von zurückgenommener Zeit. Maevayne kniete. Ihre Dornenzeremonie war fort, aber die Geste blieb.
 „Nimm ihn, Kluftpupille“, flüsterte sie. „Nimm mich.“

 

„Nein“, sagte Kaelyss. Seine Stimme war kleiner als sein Atem, aber sie fand den Weg. „Velar shal’yn Moryn.“ Im Nebel wohnt das Licht. Er drehte die Klinge, zog die eigene Narbe quer durch den Akkord, bis Blut und Ton eine Form ergaben, die das Auge nicht mochte: eine Pause. Leere als Siegel. Kein Sieg, ein Stillhalte-Zeichen der Litanei. Rhuul’Gors Duldung legte Gewicht unter die Stille: Hunger durfte atmen, nicht fressen.

Der Schwarzwasserspiegel erstarrte. Die Kluftpupille hielt an, nicht gezähmt, gebunden. Der Riss schloss sich über einem Satz, der nie geschrieben worden war. Und mit dem Satz starb ein Appetit. Die Runen am Rand seiner Pupille nahmen eine Gestalt an, die an Regel erinnerte, und scheuten zurück, als hätten sie sich selbst verstanden. Das schmierige Leuchten auf dem Wasser erlosch und tauchte wieder auf, als schämte es sich für die Pause. Ein Takt nur: Das Pausensiegel hielt, weil Rhuul’Gor es duldete.

Rhuul’Gor atmete aus—ein Nasswerden des Dämmerfalls. Blutig, säuerlich, aber nicht beleidigt. Ein Essenzwächter, der einverstanden war, dass ein anderes Gesetz als Hunger kurz den Raum hielt.

Maevayne fiel. Nicht flach: zusammen. Ein Rindenhort, dessen Essenz sich erinnerte, Baum gewesen zu sein. Sie prallte nicht; die Insel trug sie, mit Wurzeln, die wissen wollten, was Halt ist.

Kaelyss ging in die Hocke; kein Bindzeichen legte er an. „Du bist Hautweberin und Wachtzeichen,“ sagte er leise, „aber beide Gesten gehören denselben Armen.“

Sie sah ihn an, als wäre er ein Orakel, das zu spät kam. In ihren Augen lag Falorin, verborgene Freundschaft. In ihrem Mund lag Varith,Nein. Beides stimmte.

Unter den Weiden begann etwas zu singen. Die Sehnenrichter der Schwarzwasserlitanei quollen hervor. Sie knüpften aus Kaelyss’ Atemfasern eine kurze Wundformel und legten sie ihm in die Hand—kein Dank, nur das Protokoll der Wunde. Einer strich Maevayne über die Essenzhaut; wo er strich, las er: alte Kanten, falsche Häute, Leerräume.

„Lücke gespielt“, kroch es wie Faden an Knochen.

„Lüge vertont“, erwiderte Kaelyss.

„Dasselbe. Unterschiedlich. Hüte dich: Lücken vermehren sich, wenn man sie ansieht.“ Der Sehnenrichter legte den Kopf schief, als lausche er einer unsauberen Naht.

„Was ist mit der siebten Note?“ fragte Maevayne, so leise, dass nur jene es hörten, die nichts hören wollten.

„Sie ist ein Häutgewand“, sagte Kaelyss, „und passt nur jenen, die sich ausziehen, ohne nackt zu werden.“ Er hob die Klinge. Die Saiten ruhten, doch die Runen darunter atmeten. Ein Gerücht von Leid lag in der Luft.

Die Ätherhäuter  erhoben sich. In ihren Ätherrissen gärten nun Bilder von Dingen, die möglich waren, ohne zu passieren: eine Stadt aus Nebelholz, die nur während Schleiernacht existiert; eine Brücke aus Schwarzwasser-Kristall, die nicht trägt, aber erinnert; ein Markt, auf dem man Dunkelthale gegen Atem  tauscht. Kaelyss fühlte einen unerlaubten Frieden, klein wie ein Nachtfragment.

Die Sehnenrichter ritzten ein kurzes Risszeichen in die Luft, ein Gruß. „Die Litanei steht, bis jemand sie besser schreibt.“ Dann zogen sie sich zurück, als hätte die Litanei sie gerufen. Ein paar der Fäden blieben und banden Weidenäste zu Zeichen, die man bei Vollmond liest und ungeliebt vergisst.

Maevayne setzte sich auf. Ihre nackten Handgelenke trugen Abdrücke alter Essenzbänder, unsichtbar und schwer. „Ich werde wieder sammeln“, sagte sie, „aber anders. Keine Häute. Stimmen.“

„Sammle die, die nicht schreien“, sagte Kaelyss. „Und wenn sie schreien, hör zu.“. Es war ein Ratschlag, der sich anfühlte wie eine Schürfwunde: banal, schmerzhaft, wahr.

Xaer’ythuls Pupille trieb zurück in die Mitte des Tümpels, als hätte ihn jemand auf einen Satz gesetzt, den er nicht sprechen mochte. Auf Abstand gehalten vom Pausensiegel. Seine Runen wurden blasser, bis sie wirkten wie alte Narben am Himmel, die nur jene sehen, die zu viele Nächte wach bleiben. Was blieb, war eine Oberfläche, unter der nichts war, das man spontan bereuen konnte.

Der Nebel nahm seine Haut zurück. Geräusche wurden wieder zu Dingen statt zu Wunden. Geisterfrösche pulsierten, als hätten sie die Antwort auf eine Frage verloren, die niemand gestellt hatte. Schattenkriecher huschten in Clustern, neugierig, aber ohne Mut.

Kaelyss stand. Seine Stimmklinge war leichter, sein Körper schwerer. Er betrachtete die Narbe in seiner Handfläche: eine Rune, die nur im Mondlicht lesbar war. „Koryneth“, murmelte er—Wahrheit, die verborgen liegt. Er fühlte sie, nicht wie Sieg, sondern wie Temperatur. Wie etwas, das wiederkommt, wenn niemand hinsieht.

„Thyren“, sagte Maevayne schließlich. Danke. Sie wischte Schlamm von ihrem Gesicht, als wären es Schleierzählungen. „Wenn du wieder eine Lücke brauchst, ich kenne Orte, die nur aus Lücken bestehen.“

„Thalys vel shala“, antwortete er. Der Weg ist verborgen. „Ich finde ihn, wenn er mich findet.“

Die Insel löste die Anker. Wurzeln zogen aus dem Schwarzwasser, Tropfen fielen wie abgesetzte Vokale. Rhuul’Gors Atem entfernte sich, die Sümpfe regten Schulter an Schulter. Kaelyss wandte sich dem Rand der Sicht zu. Er ging, ohne aufzuhören, zu bleiben; seine Schritte waren Sätze, die nie den Punkt erreichten. Hinter ihm schloss der Nebel die Akte—feucht, ordentlich, unzufrieden. Aus der Tiefe rollte ein letzter, dumpfer Nachhall des Seelenrauschens nach, der das Schilf kurz wie Schleierstränge straff zog und die Weidenblätter in feine, blutleere Fransen schnitt; das Schwarzwasser schäumte schwarz und beruhigte sich, als hätte es gerade jemandem die Geschichte aus den Knochen gekratzt.

Im Auge des Sumpfes blieb ein flacher Glanz, nichts weiter. Ein Echo, das sich nicht traute, Erinnerung zu werden. Auf dem Weg hinaus spürte Kaelyss, wie sich etwas an die Innenseite seiner Rippen legte—nicht Schuld, nicht Stolz. Ein Fadenziehen. Hoffnung, klein wie Aderlass. Lyssan, die Hoffnung, flackerte; Daryss, die Dunkelheit, hielt still. Und irgendwo weit oben, unsichtbar hinter Schleier und Schilf, zählte ein Mond seine Narben.

Velar shala thyren. Der Nebel schützt uns. Und manchmal, wenn man die Haut richtig abzieht, schenkt er sie zurück.