„Der Nebel trägt kein Gedächtnis. Er ist das Gedächtnis.“ – Ylvarin, Chronist der Schattenhöhen
„Wer in Veltharûn geht, wandert nicht. Es ist die Welt, die sich an dir vorbeibewegt.“ – Shaelith, Nebelweberin des dritten Zirkels
„Im Schleier liegt keine Stille, sondern die Summe aller ungesagten Stimmen.“ – Ardyn Veyth, Runenseher der Obsidianpfade
Weit im Herzen von Nebeldämmerung breiten sie dich Schleierweiten aus, eine Region, die von den Bewohnern ehrfürchtig Veltharûn genannt wird. Dort, wo zerklüftete Hochlande in bodenlose Senken stürzen, sammelt sich der Nebel in Strömen und Wogen wie ein lebendiges Meer. Der Dämmermond wirft sein kaltes Licht in die silbrig schwarzen Kronen uralter Nebelkiefern, deren Blätter nicht nur Licht, sondern auch Flüstern einfangen. Manche sagen, die Bäume selbst bewahren Legenden und lassen ihre Äste erzittern, wenn alte Wahrheiten berührt werden.
In den Schleierweiten scheint der Boden Runen zu tragen, unsichtbar für das unaufmerksame Auge, doch scharf wie Schnitte im Gefüge der Welt, wenn man den Blick richtig setzt. Der Nebel hier ist kein Schleier, er ist ein Akteur. Er verschiebt Landschaften, verbirgt Vergangenes, ruft Uraltes herbei, bricht zukünftiges. Legenden erzählen, dass ganze Täler einst nur aus seinem Atem geboren wurden. Wanderer behaupten, in seinen Tiefen Stimmen zu hören, manche warnend, manche lockend, manche älter als die Monde selbst. In Veltharûn atmet der Nebel und mit jedem Atemzug verändert er das Antlitz der Welt.
Der Nebel kam wie Wasser über Stein. Er kroch an den Kämmen der zerklüfteten Ebenen hoch, verdickte sich in den Senken, wurde schwer wie Atem. Als die Monde ihr kaltes Leuchten in die silbrig schwarzen Blätter gossen, verdichtete sich die Luft zu einem Anstieg reiner Essenz. Es war, als würde die Welt selbst magisch schwellen und die Schleier ein geheimes Herzschlagen offenbaren. Der Wald antwortete mit einem Geräusch, das eher ein Erinnern war als Wind.
Ihr Name war Neythara, eine Nebelgebundene, bekannt als die Traumsprecherin der Schleierweiten. Ihr Volk lebt im Atem des Nebels, gezeichnet von der Gabe, Illusion und Geist zu vereinen. In ihrer Sprache bedeutet Neythara so viel wie „jene, die den Stimmen der Sphären lauscht“. Ihr Kaeryth ist der Pfad der Schleierträume. Sie ist keine Herrin des Nebels, sondern seine Dolmetscherin, eine, die liest, was er zeigt, und hört, was nur im Schweigen der Monde gesprochen wird.
An jenem Abend kniete sie an einem Dämmerstein, dessen Oberfläche wie gesprungener Obsidian war. Aus bestimmten Winkeln schimmerte sie blank, aus anderen traten Linien hervor. Gestaffelte Runen, deren Striche die Luft schnitten und Geschichten freilegten, wenn man sie im rechten Blick fand. Dämmerungsrunen, lebendig, wechselnd mit den Phasen, gebunden an Mond und Schleier.
„Du siehst sie jetzt, ja?“ Die Stimme kam aus dem Nebel, kaum mehr als eine Falte darin.
Die Nebelschreiterin trat näher, ihr Mantel aus faserigem Schleierstoff, die Schritte sanft, doch schwer von Wegen, die andere nie finden würden. Unter der Kapuze schimmerte ein Gesicht wie aus Nebel gemeißelt, die Züge scharf und doch fließend, als würden sie sich im Schleier selbst verlieren. Augen glühten schwach, ein kaltes Leuchten, das an die fernen Monde erinnerte. Man nannte ihresgleichen Thalorin, ein Wort im melodischen Nebelarisch, das „die zwischen Schatten und Nebel wandelt“ bedeutet. Doch diese Nebelschreiterin trug einen eigenen Namen: Vaeythira, weich und fließend gesprochen, wie das Echo einer fernen Melodie. Manche flüsterten ehrfürchtig von den Thalorin als Wegweiser der Schleier, andere fürchteten sie als Omen, die Unheil ankündigen.
„Ich sehe… etwas.“ Neythara tastete die Rillen. Der Stein pulsierte kühl. „Die Linien erzählen, aber sie reißen ab.“
„Weil der Nebel noch schweigt.“ Thalorin drehte den Stein um wenige Fingerbreit, brachte ihn in Einklang mit dem Mondhauchschnitt über den Nebelkiefern. „Heute Nacht spricht er.“
Sie blieben still, bis die Nebelwoge kam. Erst wie eine Falte im Raum, dann wie ein Fluten, das die Luft stauchte. Jenseits der Lichtung schob sich die Welt, leise wie ein Messer. Ein Hang wurde zu einem Tal, ein Hain stand plötzlich dort, wo eben nur Fels gewesen war. In Veltharûn verirrte man sich nicht, denn die Pfade selbst suchten sich ihre Wanderer. Es war, als flösse die Welt um jene herum, die verweilten, und jeder Schritt wurde von einer unsichtbaren Magie der Schleier gelenkt. Man blieb stehen, und der Rest wanderte. Neythara spürte, wie die Nebelmagie die Ränder der Dinge löste, Formen weicher werden ließ, Kanten versetzte. Sie kannte das Flüstern des Elements. Der Nebel selbst offenbarte sich ihr wie eine uralte Stimme, die nicht nur verhüllt, sondern die Fäden der Wirklichkeit verschiebt und formt.
„Weshalb hast du mich gerufen?“ fragte sie.
„Ein Ritual.“ Thalorin neigte den Kopf. „Alt, verschattet. Es verlangt zwei: eine, die den Nebel hört, und eine, die ihn spricht.“
Neytharas Finger schlossen sich um die Laterne an ihrem Gürtel, dünnes Nebelglas, fast farblos, doch bei jedem Atemzug sammelte es Licht wie Tau. Lass sie nicht sehen, dass du zitterst, dachte sie. „Wohin?“
„Zur Nachtmoor Lichtung. Der Nebel wird dort flüssig. Wir brauchen seine Haut.“
Am Rand der Lichtung stand die Luft hoch wie ein See. Jeder Schritt ließ Wellen laufen, das Licht der Monde brach sich darin, als kühlten Sterne an einer unsichtbaren Oberfläche aus. „Hier,“ sagte Thalorin und zog aus ihrer Tasche ein Bündel dünner Blätter, auf die präzise Zeichen graviert waren. Runen, aber nicht starr. Sie besaßen einen Schimmer, der auf die Monde antwortete. „Dämmerungsgravuren. Du führst sie. Ich halte den Nebel fest.“
Neythara atmete in die Laterne, ließ den Faden länger werden, bis er wie Seide durch ihre Finger glitt. Worte, leise, Velryss alt: „Kaelyss vel Koryneth.“ Erkenntnis liegt in der verborgenen Wahrheit. Der Nebel straffte sich, ein kaum hörbares Knacken, als binde jemand Fäden unter Wasser.
Dann kam der Schleierheuler. Kein Gesicht, keine feste Gestalt. Nur der Eindruck eines Atemzugs, der nie genommen wurde, und die Gewissheit, dass alles, was man liebte, aus einer fremden Erinnerung bestand. Neythara senkte den Lichtfaden in die flüssige Luft, schnitt Runen ins Wasser. Linien, Bögen, ein Netz. Gravuren der Runenschmiede, doch nicht in Stein, sondern in Haut aus Nebel. Die Zeichen sollten nicht bannen, sie sollten erinnern, was hier blieb. Veltharûn vergisst nicht. Nicht heute.
Ihre Stimme erhob sich, monoton, schwebend, Ton auf Ton, wie Atem über Glas. Die Runen in der Luft antworteten, verbeugten sich, richteten sich auf. Ein Kreis, dann ein Spiegel, dann nur noch ein Knoten an Ort und Zeit. Velthar, halte.
Der Schleierheuler legte sich zurück, gefaltet, nicht vernichtet. Stille folgte. Neytharas Hände waren taub. Thalorin atmete schwer. „Wir haben ihn nicht vernichtet,“ sagte sie. „Nur erinnert, was hier ist, wenn er kommt.“
„Das genügt.“
Aus dem Nebel lösten sich geisterhafte Schemen, die man Schattenträumer nennt. Wesen, die wie halb vergessene Geister wirken, aus Nebel und flackerndem Licht geformt, als wären sie Erinnerungen, die eine eigene Gestalt suchen. Sie glitten näher, wachsam, fast neugierig. Kein Laut. Der Nebel legte sich, die Lichtung fiel, als sei sie endlich müde. Veltharûn atmete aus.
Neythara wusste nicht, ob es Lob oder Warnung war, als Thalorin sagte: „Du gibst dem Nebel Wörter, damit er sie selbst spricht.“
Für einen Augenblick glaubte Neythara, eine Antwort zu hören. Kein Wort, nur der feine Riss eines Lächelns im Stoff der Welt.
